Ungeborenheit

Den Menschen vor der Geburt wahrnehmen

Dr. med. Sabine Schwemmle

Fachärztin für Humangenetik, Psychotherapie fachgebunden
Pränatalpsychologie, Bindungsanalyse, SAFE-Mentor

Praxis für die Familie
Im Leberzentrum München,
Sendlinger Tor Platz 9, 80336 München

Lärchenweg 11, 75210 Keltern

Aus: Die Christengemeinschaft, Themenheft Januar 2015, „Paradies – verloren und verlassen“

Vorgeburtliches Leben und Geburt sind wichtige Schritte auf dem Weg aus der geistigen Welt in die irdische Verkörperung des Menschen. Dieser Weltenwechsel ist von grundlegender Bedeutung für die inkarnierende Individualität und ihre weitere Entwicklung. Dabei haben wir Menschen inzwischen verlernt, den entscheidenden Augenblick der Geburt des Geistes im Irdischen, die Inkarnation, als das eigentliche Geburtsfest bewusst wahrzunehmen.

Die vorgeburtliche Lebensphase des Kindes im mütterlichen Leib ist durch Embryologie, pränatal-psychologisches Wissen und Genomforschung in unserer Gegenwart sehr plastisch und in neuen Dimensionen begreifbar geworden. Eine erweiterte Sichtweise der menschlichen Existenz, aber auch der Verantwortung für unsere Nachkommen erschließt sich damit. Diese vielfältigen Erkenntnisse verdeutlichen, wodurch die Individualität in einer frühen Lebensphase positiv, aber auch negativ geprägt werden kann. Bezüge zwischen vorgeburtlichem Erleben und der späteren Entwicklung des Menschen können hergestellt werden. Gesellschaftliche Beachtung findet dabei leicht, was im Sinne von Entwicklungs- und „Früh“-Förderung des intrauterinen (1) Lebens begabungspotenzierende Wirkung verspricht. Ignoriert wird die Erkenntnis eines intrauterinen Bewusstseins zumeist dann, wenn z.B. ein Schwangerschafts-abbruch wegen einer befürchteten Behinderung angedacht wird, wenn das Leben vor der Geburt durch Krisen, aber auch durch die routinemäßige Handhabung moderner medizinischer Technologie in Frage gestellt wird.

Die Durchführung einer Schwangerschafts-Diagnostik, wie beispielsweise die Fruchtwasserpunktion, kann in der Zeit bis zur Mitteilung eines erhofften, negativen Befundes durch Abtreibungsgedanken, Ablehnung oder Distanzierung von der Schwangerschaft kurzzeitig die Bindung zwischen Mutter und Kind belasten. Vorgeburtlich erfahrene Todesbedrohung, einerseits durch konkrete Abtreibungsbestrebungen, andererseits aber auch durch die geistige Haltung der Eltern zum empfangenen Kind führen zu tiefgreifender seelischer Verletzung. Ja sogar die Trauererfahrung eines überlebenden Zwillingskindes, welches das Bewusstsein von der Existenz eines verstorbenen oder abgetriebenen Geschwisters hat, kann sich im weiteren Leben auswirken.

Eine frühe Ablehnung und verinnerlichte Trauer des Ungeborenen trägt zu einem pathologischen Selbstbild, insbesondere bei postnatal belasteten weiteren Beziehungs- und Lebenserfahrungen bei. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass abtreibungsbedrohte Menschen die eigene Existenz im Erwachsenenalter als wertlos, „defekt“ und minderwertig erleben. Die Fähigkeit zu vertrauen, zu lieben, an eine höhere göttliche Existenz zu glauben ist bei ihnen eingeschränkt. Existenzielle Ängste und Bindungsstörungen aus der eigenen vorgeburtlichen Erfahrung prägen dann oft auch die erwachsene Individualität und ihre vielfältigen Beziehungsgestaltungen. Diese inneren Konflikte bleiben in der Regel unbewusst und unbearbeitet, weshalb im späteren Leben ärztliche, psychotherapeutische und seelsorgerliche Hilfestellungen erforderlich werden können.

Empfangen und Tragen

Über die Bedeutsamkeit der Ungeborenheit des Menschen aus geisteswissenschaftlicher Sichtweise äußert sich Rudolf Steiner einmal folgendermaßen: „Für die Initiationswissenschaft liegt ja heute einfach die Tatsache vor, dass im ganzen Erdenäther dadurch, dass die zivilisierten Sprachen kein gangbares Wort für Ungeborenheit haben, dieses für die Menschen wichtige Ungeborensein überhaupt nicht dem Weltenäther eingeprägt wird. Alles das aber, was an wichtigen Worten eingeprägt wird in den Weltenäther vom Entstehen, von alldem was den Menschen betrifft in seiner Kindheit, in seiner Jugend, all das bedeutet einen furchtbaren Schrecken für die ahrimanischen Mächte. Unsterblichkeit im Weltenäther eingeschrieben, das vertragen die ahrimanischen Mächte eigentlich sehr gut, (…..) wenn da so und so viel von den Kanzeln von Unsterblichkeit verkündet wird und in den Weltenäther eingeschrieben wird. Das tut den ahrimanischen Mächten sehr wohl. Aber ein furchtbarer Schrecken für sie ist es, wenn sie das Wort „Ungeborenheit“ in den Weltenäther eingeschrieben finden. Da löscht für sie überhaupt das Licht aus, in dem sie sich bewegen. Da kommen sie nicht weiter, da verlieren sie die Richtung, da fühlen sie sich wie in einem Abgrund, wie im Bodenlosen. Und daraus können sie ersehen, dass es eine ahrimanische Tat ist, die Menschheit davon abzuhalten, vom Ungeborensein zu sprechen. (…..) Es ist im Grunde genommen nichts Geringeres als der Kampf gegen die ahrimanischen Mächte, den wir selber aufnehmen müssen.“ (2)

Georg Dreißig erläutert in seinem Artikel „Erbstrom oder Jungfrauengeburt“ (Die Christengemeinschaft 1/2014) den Taufritus der Christengemeinschaft, der vielleicht genau dieser Verantwortung gerecht werden möchte: „(…)“ die Taufgemeinschaft solle den aus geistigen Welten Gesandten (den Täufling) empfangen und tragen – Worte, die zu einer geistig und moralischen Schwangerschaft aufrufen, zu einem mütterlichen Verhalten aller Menschen, egal welchen Geschlechts, gegenüber dem Abgesandten der Gottheit, der in unsere Mitte hineingeboren worden ist.“ Diese geistig moralische Verantwortung tragen wir als gesamte Christen für alle Ungeborenen und auch für die abgetriebenen Kinder.

Geistige Zusammengehörigkeit

Seit gut zweihundert Jahren hat sich die Bedeutung der Blutsverwandtschaft, der familiären Strukturen sowie der Volkszugehörigkeit deutlich gewandelt. (3)

Die Inkarnatikonsbedingungen haben sich heute schon deutlich gewandelt. Vor diesem Hintergrund ist es eine Frage, ob das Ich, die geistige Individualität, auch künftig seinen passenden Leib finden wird, um die karmischen Aufgaben seiner irdischen Existenz erfüllen zu können. Je mehr die veränderten physiologischen und psycho-sozialen Bedingungen in unserer Gesellschaft, Wunschvorstellungen und medizintechnische Machbarkeit Einfluss auf Zeugung und Geburt nehmen, desto weniger wird die Individualität auf dem Wege zu ihrer Inkarnation das Zusammentreffen der eigenen Eltern aus den geistigen Welten heraus lenken können, wie dies Rudolf Steiner mehrfach beschrieben hat. (6)

Nunmehr sieht es immer wieder auch so aus, dass nicht die Kinder sich die Eltern nach Maßgabe ihrer karmischen Entwicklung suchen, sondern die Eltern sich ein Idealkind aussuchen. Im Prinzip jedenfalls ist es möglich, nach äußeren Charakteristika sich den „Erzeuger“ eines Kindes oder die Leihmutter auszuwählen. Und was möglich ist, geschieht auch. Was dies für die Entwicklung des Kindes bedeutet ist kaum zu sagen. Was aber dennoch, unabhängig davon wie Eltern und Kind zusammenfinden, geübt und gepflegt werden kann, ist der Kontakt zu dem Ungeborenen im Vorgeburtlichen. Und ebendies ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

Gespräch mit dem Ungeborenen

in wegweisendes Beispiel für eine gute Kommunikation zwischen den Eltern, insbesondere der Schwangeren, und ihrem erwarteten Kind, stellt die sogenannte Bindungsanalyse nach Raffai und Hidas dar. (7)

Diese Form der psychologischen Schwangerschaftsbegleitung eines erwarteten Kindes und seiner Mutter lässt bereits vorgeburtlich eine tiefe Beziehung und einen seelischen Dialog zwischen Mutter bzw. Eltern und Kind entstehen. Durch ein frühes Wahrgenommen- und Gespürt-Werden kann das Ungeborene seine Persönlichkeit, seinen Selbstwert entwickeln und tiefes Vertrauen zu den Eltern aufbauen.

Gerade in den vielgestaltigen, durch soziale Belastungen verursachten, krankheits- oder schicksalsmäßig bedingten Krisen einer Schwangerschaft kann eine gefestigte Beziehungsebene präventive Hilfestellung und Sicherheit bieten. Eine so begleitete Schwangerschaft, auch und gerade in krisenhaften Situationen, die bewusst wahrgenommene Sensibilität und Verletzlichkeit des Ungeborenen in seiner seelisch und biologisch prägenden intrauterinen Entwicklungsphase sind die Basis eines weiteren gesunden Erwachsenenalters.

Diesen schulmedizinischen, psychotherapeutischen Ansatz kann die anthroposophische „Seelenheilkunde“ des 21. Jahrhunderts mit ihren speziellen menschenkundlichen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen in vielfältiger Form erweitern. Das oft bereits im intrauterinen Lebensraum verletzte Selbst- und Gottesbild des Menschen wird sich so entscheidend ändern und stabilisieren können.

Das Gefühl in seiner wahren geistigen und menschlichen Existenz angenommen, beachtet und wertgeschätzt zu werden ermöglicht dem Kind, eine wirkliche Perspektive für die eigene gottgewollte Existenz zu entwickeln.

Wir alle kommen aus seinem Herzen
ER hat Wohlgefallen an uns
Auch wir werden zurückkehren in sein göttliches Herz

 

Literaturhinweise:

(1) intrauterin – innerhalb der Gebärmutter liegend bzw. erfolgend
(2) Rudolf Steiner: Der Mensch in seinem Zusammenhang mit dem Kosmos. GA 203. Vortrag vom 13.3.1921.
(3) Rudolf Steiner: Die spirituellen Hintergründe der äußeren Welt. GA 177. Vortrag vom 26.10.1917.
(4) Ebd.
(5) Ehrenfried Pfeiffer: Die Unternatur und Übernatur in der Physiologie der Pflanze und des Menschen – Die wahre Grundlage der Ernährung. Vortrag vom 1.10.1958. In: Ein Leben für den Geist. Hg. T. Meyer. Basel 1999.
(6) Vgl. z.B. Rudolf Steiner: Menschenwesen, Menschenschicksal und Weltentwicklung, GA 226, Vortrag vom 17.05.1923. Rudolf Steiner: Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen, GA 109, Vortrag vom 07.06.1909
(7) Jenö Raffai und György Hidas: Nabelschnur der Seele. Psychosozial-Verlag. Gießen 2006.